Die dauerhafte Installation "Gewachse’ in der Corneliuskirche im Hamburger Stadtteil Fischbek entstand durch die intensive Auseinandersetzung mit dem sakralen Raum im Allgemeinen und den baulichen Gegebenheiten der in den 60er Jahren errichteten Corneliuskirche im Besonderen. Über einen Zeitraum von zwei Jahren diskutierte Hans Bunge mit den Gemeindemitgliedern, machte Vorschläge zur Umgestaltung des Kircheninnenraums und konzipierte schließlich für den Altarbereich eine Installation, die sowohl formale und ortspezifische Aspekte der sakralen Architektur berücksichtigt, als auch den geistigen Raum der Corneliuskirche inhaltlich fasst. Der folgende Text ist ein Auszug aus der Predigt des Pastors Gerhard Janke, mit der die Arbeit am Palmsonntag 1999 eingeweiht wurde.
„Zwei Tücher, die einmal eins waren, fassen den Altarraum links und rechts
[...] ein und geben den auseinanderstrebenden Flächen des Daches optischen
Halt.
Die Farbe des Tuches nimmt die Farbe des nackten Sichtbetons auf und fügt
sich so in die architektonischen Vorgaben unserer Kirche ein. Und zugleich
ist ein Kontrapunkt deutlicher kaum vorstellbar: Nicht hart und eckig und
rauh, sondern weich und fließend und sanft. [...]
Die beiden Teile haben jeweils ein Format von drei mal vier Metern. Das Produkt
3 x 4 ergibt die Zahl 12:
12 Stämme Israels, [...] 12 Apostel, die 12 Tore des himmlischen Jerusalems...
Die Summe 3 + 4 ergibt die heilige Zahl 7, die dem Wochenlauf ihren Rhythmus
gibt.
Von oben her ist das Tuch begossen. Heißes Wachs hat sich mit dem Leinen
verbunden, ist in seiner Form erstarrt und bildet ein Fließen, ein Gießen,
ein Strömen. Wachs von den Bienen aus der Fischbeker Heide, aromatisch duftend,
wie ein kostbares Salböl, herabfließend, wie eine Salbung, wie das Wasser
der Taufe [...].
[...] Da nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in Leintücher mit wohlriechenden Ölen, wie die Juden zu begraben pflegten.
Mir fällt auf, daß das Letzte, was Menschen mit Jesu Leib taten, dem allerersten entspricht, was Maria diesem Jesu tat: Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln.
Und auch in der Ostererzählung vom leeren Grab wird wieder auf die dann sorgfältig zusammengelegten Leintücher verwiesen, und ich entdecke plötzlich, daß Leinentücher ein Motiv sind, die die Leiblichkeit Jesu fassen, von Weihnachten, über Karfreitag bis hin zum Morgen der Auferstehung.
[...] Die Geschichte vom Hauptmann Kornelius und von der Vision des Petrus [...] steht geschrieben in der Apostelgeschichte Kapitel 10:
- [Petrus] sah den Himmel aufgetan und herniederfahren ein Gefäß wie ein
großes leinenes Tuch, an vier Zipfeln niedergelassen auf die Erde.
- Darin waren allerlei vierfüßige und kriechende Tiere der Erde und Vögel
des Himmels.
- Und es geschah eine Stimme zu ihm: Stehe auf, Petrus, schlachte und iß!
- Petrus aber sprach: O nein, Herr; denn ich habe noch nie etwas Gemeines
und Unreines gegessen.
- Und die Stimme sprach zum zweiten Mal zu ihm: Was Gott gereinigt hat, das
heiße du nicht gemein.
- Und das geschah zu drei Malen; und das Gefäß ward sogleich wieder aufgenommen
gen Himmel.
Und die Vision erzählt weiter, daß Petrus die Botschaft der Vision verstand,
daß er Gottes Willen verstand, seinen nationalen, kultischen und religiösen
Dünkel abzulegen, daß er hier den Auftrag erhält, die frühe Urchristenheit
aus ihrem provinziellen Selbstverständnis hinauszuführen in die Welt und
auf die Menschen zu. [...]
Eine Woche lang hat dieses Tuch – noch in einem Stück – wie das in der Vision
an vier Zipfeln aufgehängt hier vor dem Altar gehangen. Mich hat es dabei
berührt zu erfahren, daß die Säume und die Ösen, an denen es hängt, in traditioneller,
handwerklicher Manier von einem alten Segelmacher angefertigt wurden, der
[...] noch auf dem alten Segelschiff Pamir [...] um die Welt gefahren ist.
So repräsentieren auch die Näharbeiten noch die weltumspannende Öffnung des
Evangeliums in der Geschichte von Petrus [...].
Das ist das eine: Diese universale Öffnung [...]. Das andere aber ist, daß wir neben solcher Weite auch die Nähe brauchen und die Heimat, ein Nest, ein Haus. So, wie diese Kirche aus Beton gemacht ist, so bauen die Bienen ihr Haus aus Wachs. Es ist heimatliches Wachs. Ein Fischbeker Imker hat es geschenkt. Seine Bienen haben es oben in der Heide gesammelt und überall in unseren Gärten zusammengetragen. Wachs, das in dieser Gemeinde gewachsen ist.
Das Wachs ist naturbelassen, ungereinigt, durchsetzt mit Pflanzen- und auch Insektenteilen. Unreines Wachs unreiner Tiere könnte man in Hinsicht auf die Vision des Petrus sagen. Und doch zu unserem Nutzen und unserer Heilung. Schon in der Antike hat man Bienenwachs als pflegenden, ja heilenden Salbengrundstoff geschätzt. Die orthodoxen Kirchen legen großen Wert darauf, daß ihre liturgischen, geweihten Kerzen aus reinem Bienenwachs gemacht sind. Zu allererst und ihrem ursprünglichen Zweck nach aber sind die Waben das Gefäß des Honigs, der in der Auslegung der Kirchenväter als mystische Nahrung ein Christussymbol war.
Das Wachs ist über das Tuch geflossen und in das Gewebe eingedrungen, ist mit ihm verschmolzen zu einer unlösbaren Einheit aus zwei Materialien. [...] Das ganze Tuch hat eine Woche lang vor und über dem Altar gehangen, wie in der Petrusvision, und zugleich mußte ich daran denken, wie man früher während der Passionszeit die Altäre mit Hungertüchern verhüllte.
Zuletzt aber wurde das Tuch in zwei Hälften geteilt, – und wieder eine Assoziation der Passionszeit – wie beim Todesschrei Jesu der Vorhang vor dem Allerheiligsten des Tempels in zwei Teile zerriß, nun ist der Weg zu Gott frei und unversperrt. [...]
Ein ungegenständliches Kunstwerk ist entstanden, für viele sicher ungewohnt. Aber ich habe in der Entstehungszeit verstanden, daß sich diese Art der Kunst nicht nur in besonderer Weise in unsere moderne Kirche fügt, sondern daß sie darüber hinaus sich ganz besonders für sakrale Kunst eignet. Weil sie das Bilderverbot achtet, weil sie nichts festlegt, weil sie unsere Gedanken herausfordert und in Fluß bringt. [...]“