Die Installationen und Objekte Hans Bunges irritieren. Sie irritieren, weil sie nicht nur den Raum verändern, in dem sie sich befinden, sondern auch den Betrachter, der als Teil dieses Raumes mit in ihren Wirkungsbereich gezogen wird. Er steht nicht als unbeteiligter Beobachter vor der Kunst, sondern wird Teil der Installation und findet sich unversehens inmitten eines Spannungsfeldes unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen. Die klaren Grenzen zwischen Kunst, Raum und Betrachter verschwimmen und eröffnen ein Terrain, in dem die Unterscheidungen zwischen Inszenierung und Interpretation nicht mehr eindeutig definierbar sind. Hans Bunge bringt mit seinen Installationen nicht nur die Topographie des Raumes ins Blickfeld, seine physische Beschaffenheit und seine eingeschriebene Geschichte, sondern verdeutlicht zugleich, dass dieser Raum erst durch die individuelle Interpretation des Betrachters seine Bedeutungszuschreibungen erhält. Die Überlagerung von imaginärem Bildraum und der Geschichte des Ausstellungsraumes, von der Intention des Künstlers und dessen, was der Betrachter an Eigenem mit- und einbringt, führt zu einer Bewusstwerdung der Wechselwirkungen von Wirklichkeit und subjektiven Wahrnehmungsprozessen.
Hans Bunge setzt häufig Spiegel ein, um eine Durchdringung von Bildraum und realem Raum zu erreichen. Mit Spiegelbildern wird seit langem die Vorstellung von Wahrhaftigkeit, einer Sichtbarmachung des ‚Anderen’ und der Welt des Unbewussten verbunden. Grund dafür mag eine Besonderheit des Spiegelbildes sein: Der Verstand ordnet es als ein nicht reales Abbild ein, als eine zweidimensionale Reflexion des davor befindlichen Raumes. Für die visuelle Wahrnehmung jedoch ist der gespiegelte Raum ein realer. Das Auge hat es im optischen Sinne tatsächlich mit einem Raum zu tun, dessen räumliche Tiefe eine Anpassung an Entfernungen erfordert. In der Spiegelung entsteht so der Eindruck einer anderen, dreidimensionalen Realität, einer Welt jenseits der Fläche, die zwar optisch wahrnehmbar, aber nicht real erfahrbar und betretbar ist.
Hans Bunge nutzt diese irritierenden Eigenschaften des Spiegels, um den Betrachter mit seinen Bildwelten zu konfrontieren, in der Realität und Imagination eins werden. So lässt sein Installationskonzept Kopfüber (2003) für die Kirche St. Peter in Köln den mit dem Kopf nach unten gekreuzigten Petrus mittels ausgelegter Spiegel wieder auferstehen. Der Betrachter sieht in den Spiegeln unter seinen Füßen eine auf den Kopf gestellte Parallelwelt, in der er selbst, die Architektur des Kirchenraumes und die christliche Bildgeschichte auf eine Bedeutungsebene gebracht und gleichzeitig wahrgenommen werden.
Ein weiteres Merkmal, das sich in vielen Installationen Hans Bunges findet, ist die Ausgrenzung des Betrachters. Schon der Spiegel verweigert trotz der real-räumlichen optischen Erfahrung den tatsächlichen Zugang. Obwohl der Betrachter zunächst in die Bildwelt hineinversetzt wird, weil er sich und seine Umgebung als Teil des Kunstwerkes wahrnimmt, ist der letzte Schritt – das tatsächliche Hinübertreten in den imaginären Raum – ein unmöglicher. Mit dieser Weigerung, einen Zugang zu gewähren, behaupten die Installationen trotz aller Offenheit ihre Autonomie. Der Zugänglichkeit für die Imagination des Betrachters steht eine Unzugänglichkeit im körperlichen Sinne gegenüber. Dies wird besonders in der frühen Arbeit Waltraut II (1978) deutlich, in der Hans Bunge private Aktfotografien aus den 50er Jahren verwendete. Hier gerät der Betrachter unversehens in die Position eines Voyeurs, der sich in die Szene hineinversetzt fühlt und die Lockungen des Modells unmittelbar auf sich bezieht. Die Illusion einer Intimität wird jedoch mit der letzten Aufnahme schlagartig zunichte gemacht: Hier erscheint der Fotograf auf der Bildfläche, posiert gemeinsam mit dem Modell und lässt den Betrachter als ausgesperrten Zaungast zurück.
Auch in Hans Bunges Entwurf für das Holocaust-Mahnmal (1999) in Berlin findet eine Ausgrenzung vom Zugriff des Betrachters statt. Das Konzept sah vor, das für das Mahnmal vorgesehene Areal ‚auszuzäunen’, um so die Stätte für den Besucher einsehbar, aber unzugänglich zu machen. Geschichte wird hier zu etwas Abgeschlossenem, das sich einem Eingreifen verwehrt. Die sichtbare Präsenz des Ortes verdeutlicht jedoch die nachhaltige Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart. Lediglich die wuchernde Vegetation hätte hier tatsächlich den Zaun der Zeit überwinden können, um in ihrer Unbekümmertheit den Wunsch nach Ungeschehen zu verwirklichen.
Wenn hier zu der Erfahrung einer Unzugänglichkeit des imaginären Raumes auch das Sichtbarmachen zeitlicher Prozesse tritt, so findet sich dieses Thema Hans Bunges auch in der aktuellen Arbeit Gezeiten - Aquarell (2005). Für die Kirche St. Katharinen in Hamburg wird an der Kaimauer des benachbarten Hafens ein Segeltuch befestigt und über einige Wochen den Gezeiten ausgesetzt. Das Tuch mit seinen durch Hafenschlick und Algen entstandenen horizontalen Sedimentierungen soll anschließend dauerhaft im Eingangsbereich der Kirche aufgehängt werden. Es setzt nicht nur die überdauernde Regelmäßigkeit des Gezeitenstroms mit christlicher Seinsauffassung in Beziehung, sondern verweist zugleich auf die besondere Lage der Kirche in unmittelbarer Nähe zum Wasser und die Flutmarke am Ort der Hochwasserkatastrophe von 1962.
Die Installationen Hans Bunges sind vielschichtige Auseinandersetzungen mit Gleichzeitigkeiten der verschiedenen Kontexte von subjektiven Assoziationen und spezifischen Aspekten des Ortes und seiner Geschichte. Indem sie den Betrachter in das Spiel der Bedeutungsebenen mit einbeziehen, eröffnen sie die Möglichkeit individueller Interpretation. Das Kunstwerk ist hier kein intentionaler Akt des Künstlers, der versucht, eine Bedeutung zu transportieren. Es ist vielmehr das Öffnen eines gedanklichen Feldes, ein Anstoß, die Gegebenheiten nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Kunst, der räumlichen Situation und der eigenen Erlebniswelt.