Auf den ersten Blick scheinen Hans Bunges Bilder ganz dem Medium der Fotografie verhaftet. Die Motive scheinen vertraut, scheinen mit unserem Bildgedächtnis bereits gesehener fotografischer Aufnahmen vereinbar zu sein und es ergänzend zu bestätigen. So erinnert Mein kollektives Fotoalbum an die braunstichigen Aufnahmen aus alten Familienalben, an Fotografien aus unserer eigenen Kindheit, der der Eltern oder Großeltern.
Die Serie Blumen und Stilleben zeigt typische Arrangements von Blumen und Früchten, wie wir sie aus Vorlagen für Stilleben-Malerei kennen und auch die Bilder aus der Reihe :ausgemalt sind auf den ersten Blick vertraut, zeigen sie doch einschlägige Motive von Schnappschülssen, Urlaubs- und Erinnerungsfotos. Der zweite Blick offenbart jedoch, dass Hans Bunge keinesfalls nur mit Reproduktionen alter Fotografien arbeitet, um sie vor dem Vergessen zu bewahren, oder sie durch das Spiel mit Privatem und Öfentlichem in einen neuen künstlerischen Sinnzusammenhang zu stellen. Die Bilderserien Hans Bunges thematisieren vielmehr grundlegende Fragen nach der Konstruktion von Vergangenheit, Erinnerung und Wirklichkeitsvorstellung durch Fotografien und Bilder. Sie unterlaufen unsere gewohnte Wahrnehmung von Wirklichkeit, in der wir objektives Abbild und subjektive Vorstellung, Realität und Illusion strikt voneinander zu trennen bemüht sind.
Bei dem Versuch, seine Vergangenheit mittels eigener Familienfotos zu rekonstruieren, stellte Hans Bunge fest, dass die Bilder offenbar weniger über ihn selbst etwas aussagten, als vielmehr über den Blick des jeweiligen Fotografen; er warf sie auf den Müll. Stattdessen stellte er mittels auf Flohmärkten, im Sperrmüll und in Trödelläden gefundener Fotografien ein Kaleidoskop ähnlich vertrauter Motive zusammen, die in ihrer Verknüpfung stellvertretend für eine fotografisch-biografische Bildkultur des Alltäglichen stehen können: Kinder beim Baden, Spielen und mit dem neugeborenen Geschwisterchen im Arm, der erste Bauklotzturm, das erste Fahrrad, die erste Soziusfahrt auf Vaters Motorrad. „Der Fotograf macht ein Bild, er macht sich ein Bild von den Betroffenen, nimmt sie in Besitz, übt Macht über sie aus“, schreibt Hans Bunge rückblickend über Mein kollektives Fotoalbum (1975). Durch die Anonymität der fotografierten Personen wird hier der Blick nicht mehr durch die Verbindung mit der eigenen Geschichte und Erinnerung beeinflusst, sondern schärft sich für die hintergründige Intention des Fotografen, durch die inszenierten Momentaufnahmen an der Konstruktion eines zukünftigen Bildgedächtnisses mitzuwirken. Diese Auseinandersetzung Hans Bunges mit der Inszenierung von Bildbiografien analysiert Theo Waindrukh in seinem Text "Vom Fremden zum Ureigenen".
Die Arbeit Blumen und Stilleben (2000) nähert sich dem Thema der Wirklichkeitserzeugung durch die Fotografie von einer anderen Seite. Nicht vorgefundene Familienfotos dienen hier als Material für eine künstlerisch-reflektierende Auseinandersetzung mit Erinnerung und Bildgedächtnis, sondern das verwendete Bildmaterial ist hier selbst bereits Ergebnis eines künstlerischen Arbeitsprozesses. Die Dias aus den frühen 40er Jahren zeigen Früchte- und Blumenarrangements, die offenbar als Vorlagen für eine malerische Reproduktion dienen sollten. Die mittlerweile verblassten und grünstichig gewordenen Kompositionen hatten eine morbide Schönheit entwickelt, die Hans Bunge dazu veranlasste, die begonnene Arbeit des unbekannten Künstlers fortzusetzen, um die fotografischen Vorlagen doch noch zu Bildern werden zu lassen. Hierzu setzte er erstmals ein Verfahren ein, das auch noch in den neuesten Arbeiten Anwendung findet. Bunge scannte die Vorlagen, bearbeitete sie digital und ließ sie anschließend großformatig mit Tinte auf Leinwand drucken. Die so entstandenen Bilder bewegen sich im Grenzbereich zwischen Fotografie und Malerei. Zum einen haben sie den Charakter des unverfälschten Originals verloren, haben eine künstlerische Bearbeitung durchlaufen und verweisen nicht zuletzt durch die Verwendung von Tinte auf Leinwand auf die künstlerische ‚Handschrift’ Hans Bunges. Zum anderen aber transportieren sie noch immer den dokumentarischen Charakter einer Reproduktion vorgefundenen Fotomaterials.
In der Serie :ausgemalt (ab 2001) verknüpfen sich schließlich die von Bunge entwickelten Verfahrensweisen der Bildbearbeitung zu einer Bildsprache, die vorgefundenes Fotomaterial, künstlerische Bearbeitung und Assoziation des Betrachters miteinander interagieren lässt. Wie Filmstills reihen sich die auf Leinwand gedruckten Bilder aneinander, deren ursprünglicher alltagsfotografischer Charakter durch Hans Bunges subtile Eingriffe zu Fenstern in eine andere Wirklichkeit zu werden scheinen. Wiederum errichtet er hier mit fotografischem Bildmaterial eine Bühne, auf der unsere eigenen Assoziationen und Erinnerungen zur Aufführung gebracht werden. Wir glauben, dieselben Personen auf verschiedenen Bildern wiederzuerkennen, beobachten die Szenerien vor der Kamera und die unterschwellig dominierende Sicht des Fotografen dahinter. Fast vergessen wir über die Lust am Entdecken von Zusammenhängen den lenkenden Einfluss Hans Bunges, der durch seine Bildauswahl und die digitale Bearbeitung dem Spiel der Perspektiven eine weitere, seine eigene hinzufügt. Die Eingriffe Hans Bunges fokussieren dabei den Blick, lenken ihn unmerklich auf bestimmte Details und verdichten atmosphärische Konnotationen. Die jüngsten Bilder dieser Serie lösen sich schließlich von der Verwendung vorgefundenen Bildmaterials. Seit 2004 bearbeitet Hans Bunge eigene Aufnahmen digital und bringt sie großformatig mit Tintendruck auf Leinwand. Der forschende Streifzug durch die Vergangenheit scheint in gegenwärtigen Wirklichkeiten angekommen und übergangslos ersetzt Bunge den Blick des fremden Fotografen durch seinen eigenen. Nur noch selten sind Personen zu sehen, vielmehr entleert sich zunehmend die Bühne des Bildes und öffnet so den Blick auf Szenerien, die den Hintergrund für ein freies Spiel assoziativer Interpretationen des Betrachters bilden.
Die flache Leinwand ist die Wirklichkeit und sie existiert in zwei Dimensionen. Die dritte Dimension befindet sich im Kopf des Betrachters. Hans Bunges Bilder erzählen keine Geschichten, sondern evozieren diese. Sie gleichen Gedichten, nachgestellten Traumszenen, komplex inszenierten Choreographien des menschlichen Geistes. Sie sind Bühnenbilder, Szenerien, in denen sich unsere Assoziationen und Interpretationen mit Vorgefundenem vermischen und im Geiste etwas zur Aufführung bringen lassen, das uns in seiner fremdartigen Vertrautheit umso intensiver anspricht, gerade weil es sich dicht neben unseren gewohnten Wirklichkeitsvorstellungen zu ereignen scheint.