Fragen, auf die ich stoße, wenn ich über meine Irritation, manchmal
sogar auch Unbehagen beim Anblick eigentlich ganz banaler, trivialer Bilder
nachdenke.
Alltägliche Personen beim Baden, im Ruderboot oder beim Essen, Einzelfiguren,
gewollt ins Bild gesetzt, belanglose Urlaubserinnerungen - das sind die Motive
der neuen, großformatigen Bilder von Hans Bunge.
Ihre Titel wie "Bellungen", "Kellersee", "Strande", "Bellchen" oder "Am Ostufer" sind zumeist sachliche Ortsangaben, die keinen echten Beitrag zur Sinnfindung des Bildes leisten, manchmal sogar das Gegenteil bewirken und das Befremden des Betrachters noch steigern.
So z.B. das Bild mit dem Titel "Tanzstunde". Ein Mädchen, in floral gemustertem Bademantel und mit geröteten Wangen, steht auf einem Bein, leicht angelehnt an die Zimmerwand in einem nicht näher definierbaren Raum. Rechts, dicht neben ihr, ist ein gestreifter Herren Bademantel auf irgendein Möbelstuck drapiert, links eine leere Wand und nichts, was auf den Titel, auf ein vor oder nach der Tanzstunde hindeutet - oder vielleicht doch?
Die Fremdheit zwischen Bild und Titel animiert mich, über die vielleicht
doch möglichen Zusammenhänge zu spekulieren: worauf ist ihr Blick
gerichtet, warum die offensichtliche Erregung, in was für einem Raum
- Wohnzimmer, Schlafzimmer - steht das Mädchen?
Die Zusammenführung von eindeutigem Titel und klar erkennbarem Bildgegenstand
gibt Rätsel auf, wirkt geheimnisvoll und verleiht dem Werk einen surrealen
Charakter.
Die Geschichte, von dem das erzählerisch inszenierte Bild einen Augenblick
gibt, kann der Betrachter sich nun selbst ausmalen.
Ganz anders, heiter, genüsslich und schwindelerregend “Fridas Geburtstag”. Eine Tischgesellschaft, zusammengesetzt aus zwei Damen und zwei Herren in gemischter Folge, mit festlichen Attributen am scheinbar runden Tisch.
Ein Bild, bestehend aus vier quadratischen Bildtafeln, die so zur Raute
zusamment gefügt wurden, dass jeder Bildteil der Tafelrunde um jeweils 90 Grad
gekippt ist und mich zu einigen gymnastischen Übungen oder zumindest
zu mentalen Verdrehungen nötigt.
Der Scheitelpunkt des rautenförmigen Gesamtbildes befindet sich in der
beachtlichen Höhe von 240 cm. Das in die obere Spitze montierte Bildnis
eines am Tisch sitzenden und speisenden Herrn erhält durch den nun exakt
senkrecht verlaufenden Scheitel und die ihn rücklings strahlenkranzförmig
umspielenden Falten eines Dekostoffes eine eigenwillige, beinah gottgleiche
Akzentuierung.
Scheitel, Nasenrücken und andere geradelaufende und rechtwinklige Bildlinien bringen den Blick des Betrachters in kreisenden Schwung und dies entgegen der üblichen Leserichtung, was seinen Bildgenuß verlängern soll. Kleidung, Körper- oder Fingerhaltung, weiße Tischwäsche, Schnecken und andere Speisen lassen auf ein besonderes Ma(h)l schließen, man gönnt sich offenbar etwas Feines.
Frisuren und Mode deuten auf die vergangenen 50er und 60er Jahre hin, die Zeit des Wirtschaftswunders. Durch die Bildinszenierung und Bildkomposition werden die abgebildeten Personen als stolze Teilhabende an jenem Wirtschaftswunder gedeutet. Verwandt mit dokumentarischer Fotografie, aber dank der skurrilen Inszenierung keineswegs vergleichbar damit, spiegelt “Fridas Geburtstag” den Zeitgeist der 60er Jahre, der für alle Motive dieser Werkgruppe bezeichnend ist.
Was aber hat es mit diesen malerisch auf Leinwand dargebotenen Fotomotiven der 50er und 60er Jahre auf sich? Woher stammen sie? Hans Bunge ist kein Maler im klassischen Sinn, ganz im Gegenteil, er zählt zu der Generation von Künstlern, die in den 70er Jahren die Malerei als unzeitgemäße künstlerische Ausdrucksform ablehnt und sich selbst auf Jahre, Jahrzehnte ein Malverbot auferlegte. Er formuliert in dem weniger verdächtigen, “vermeintlich” angewandten Medium Fotografie und fernab von überkommenen Bildungswerten. Er widmete sich der Trivialästhetik, insbesondere der Amateurfotografie und trug ein Bildarchiv zusammen, das heute aus über 1000 Fotoalben, zahlreichen Einzelfotos, Negativ- und Diasammlungen privater Provenienz besteht und dessen Bilder er auf dem Sperrmüll, in Trödelläden und auf Flohmärkten dem Vergessen entriss.
Mit Foto-Fundstücken aus eigenem Fundus arbeitet Hans Bunge seit den 70-er Jahren. Aus verschiedensten fremden Quellen stellte er eine eigene Bildbiographie zusammen unter dem Titel: “Mein allgemeines Fotoalbum”. Immer wieder gestaltete er in den folgenden Jahren mit gefundenem Fotomaterial neue Ansichten, lieferte Interpretationen zum Vorgefundenen. So zum Beispiel in seiner Ausstellung “Waldtraud II” : Von elf 6 x 6 Negativen mit privaten erotischen Motiven wurde auf A3 Fotopapier je ein Kontaktabzug gemacht und hinter Glas gebracht. Der Betrachter mußte um das Bild zu sehen eine Spinnenseide lüften und kommt doch nicht ins Bild, weil es, wie die Kamera sieht, auf den Kopf gestellt ist statt dessen spiegelt er sich selbst......
So auch bei seiner Fotoinstallation “Rücksichten”.
Aus einem Konvolut von postkartengroßen Frisurenfotos wählte er
24 Abbildungen von Frauen Hinterköpfen aus, die jeweils zwischen zwei
Glasscheiben geklemmt in einem Abstand von 6 cm vor einen kleinen Spiegel
gehängt wurden. In dieser Position kann der Betrachter das Originalfoto
nur seitenverkehrt wahrnehmen, wie auch sein eigenes Spiegelbild:
Aus dem durch das Objektiv des Fotografen fixierten Bildobjekt wird so der
subjektive Blick restituiert.
Im Jahr 2000 schuf Hans Bunge erstmals Bilder mit malerischer Qualität.
Mit dem Titel “Blumen und Stilleben” entstand eine Gruppe von
Gemälden, die auf einer Auswahl von Agfa-Color-Dias von 1942 basierte.
Der artifizielle Charakter jener Dias, die sich in einem mit “Blumen
und Stilleben” bezeichneten Kästchen befanden, legte ihrem Entdecker
Hans Bunge die Vermutung nahe, jene Lichtbilder seien seinerzeit gemacht
worden, um in Malerei übertragen zu werden.
Diesen Schritt vollzog Hans Bunge im Nachherein und griff erstmalig zur
Leinwand ohne allerdings dabei die Farbe mit dem Pinsel aufzutragen, sondern
unter Zuhilfenahme heutiger digitaler Bildtechnik.
In seiner Ottensener Factory wurden zehn Bilder mit Blumen und Stilleben im Sinne des Fotografen digital überarbeitet und mit Pigment-Tinte auf grundiertes Gewebe aufgetragen. Er spannte dann die Leinwände auf Keilrahmen und vollendete sie malerich mit Pinsel und Firnis. Hierbei war das Fundstück der “Rohling”, der im gemutmaßten Sinne des damaligen unbekannten Fotografen durch Hans Bunge zu seinem wahren “Voll-Ende” geführt wurde. Für diese Mischform aus Eigenem und Fremden prägte Hans Bunge den Begriff “Reprodukt”.
Mit seiner Werkgruppe :ausgemalt. geht Hans Bunge in seiner Konzeption
weiter. Sein Rohmaterial, diesmal ein Konvolut von über 400 vorgefundenen
Dias, dient ihm hier nur noch als Rohstoff für eigene Geschichten.
Durch erheblichen Eingriffe stört er die Dreiecksbeziehung zwischen
dargestellter Person, deren Beobachtungsgegenstand und dem Fotografen, der
als Vorher Seher selbstverständlich als Hauptfigur auf jedem Foto präsent
ist, weil er allein Aufnahmeort und -zeit bestimmt.
Jetzt nimmt Hans Bunge den Platz des Vorhersehens ein und räumt diesen
in der Ausstellung den Besuchern. Die Qualität der Eingriffe hängt
von der Aussagedichte des “Stoffs” ab.
Oft verändert er den Bildschnitt und verschiebt dadurch das ehemals
durch das im Objektiv des Fotografen festgelegte Bildzentrum, er verändert
die Größenverhältnisse einzelner Bildteile, nimmt weg oder
fügt hinzu, kontert ein ganzes Motiv, alles was sich nach seinen Willen
montieren wie fabrizieren läßt.
Gern nimmt er Unschärfen in Kauf oder führt diese künstlich
herbe,i um den dokumentarischen Wert von Ort/Zeit- Gebundenheit zu Gunsten
einer allgemeingültigen Aussage zu verdichten. So werden aus privaten
Souvenirbildern mit familiärem, dokumentarischen Wert anonyme, mehrdeutige
Bildnisse. Er öffnet damit eine Bilderkammer und legt Ideen, Inhalte,
ein aufgeladenes Potential von Sichtweisen dar, die losgelöst von
den ursprünglichen Bildabsichten des Fotografen entwickelt und bildnerisch
formuliert sind.
Hans Bunge versteht sich dabei als “Be-former”. Er legt verdeckte Botschaften frei, macht “offen-sichtlich”, was er in den Fundstücken sieht. Er transformiert Dias aus ihrer Existenz im Dunkeln, aus ihrer privaten Sphäre und ihrem zeitgeschichtlichen Kontext heraus ans Licht der Öffentlichkeit. Dabei wird das ursprüngliche, immaterielle Lichtbild verwandelt und zur dauerhaften Präsenz auf der Leinwand fixiert.
Hans Bunge sagt dazu: ”Leinwand - der Stoff auf dem die Träume sind ....”
Alle Bilder der Gruppe wirken seltsam entrückt, dem Leben für einer Augenblick entzogen und erstarrt, teilweise unterkühlt und von einer merkwürdicen Weltferne durchzogen. In Bildern wie “Bellchen” oder “Am Ostufer” schauen wir ganz klassisch mit einer Rückenfigur ins Bild. Wie absichtsvoll und artifiziell der Amateurfotograf dieses Prinzip gebrauchte, wird in “Bellchen” besonders deutlich, denn hier platzierte er seinen eigenen Spazierstock offensichtlich eben da, wo seine Frau, die Statistin im Bild, zu stehen hatte. Andere Bilder wie “Kellersee” provozieren durch die Direktheit, mit der die abgebildeten Personen den Betrachter, anstelle des Fotografen anschauen.
“Mich haben die Dias besonders interessiert, wo eine besondere Beziehung zwischen Bildraum, Figur und Fotografen existierte, was ich dann noch verstärkt habe damit, auch der Betrachter sich etwas ausmalen kann‘, beschreibt Hans Bunge die Kriterien, die ausschlaggebend für die Auswahl der zu be-formenden Bilder waren.
In einem extrem innigen Verhältnis wird diese Dreiecksbeziehung von Bild - Figur - Fotograf in der Komposition “Kreuzweg ” formuliert. Der ganze Stolz des Fotografen, sein Automobil, wird dynamisch in Szene gesetzt. Der ursprüngliche, zeitübliche Bildtext könnte lauten: Ich - mein Auto - meine Frau - auf meiner Reise mit meiner Kamera aufgenommen. Diesen inhaltlichen Tenor aufspürend, bearbeitet der Künt stler jetzt das Vorgefundene: er setzt den Opel-Rekord diagonal und dynamisch ins Bildzentrum, zoomt ihn gewissermaßen heran, reduziert den Bildausschnitt, schneidet die mitfotografierte Frau auf der rechten Btldhälfte ab, ohne dass sie jedoch als Motiv entfällt. Sie ist doppelt gespiegelt, nur als Kopf und als Körper auf der Karosserie wie im Zerrspiegel eines Panoptikums im Bild präsent.
Auch der Fotograf als Schlüsselfigur rückt ins Bild. Sein Blick findet sich in Gestalt einer Sonnenbrille auf dem Armaturenbrett, sein Besitz wird anhand des am Rückspiegel hängenden Schlüssels paraphrasiert.
Das Foto, von rechts beschnitten, musste am linken Rand ergänzt werden, um die Einbeziehung jener zentralen Details und das schwungvolle von links entlang der Zierleiste ins Bild Hereinfahren des Betrachters zu inszenieren.
Wie auch in anderen Bildern der Werkgruppe so auch hier ein sehnsuchtsvoller Fernblick, der bei genauerer Betrachtung allerdings abrupt von dem horizontal die Wiesenlandschaft durchschneidenden Stacheldraht gebremst wird. Dennoch verschmelzen Natur und Technik im Grün der glanzvollen Oberfläche des PKWs, im makellosen Autolack spiegelt sich nicht nur eine Landschaft, sondern eine Lebensphiloscphie.
Diese abstrahierte Bildaussage ist mittels Farbe und Formensprache bis in feinste Nuancen ausgetüftelt, fabriziert und montiert. Der Künstler schafft aus seiner am Dia entwickelten Vision durch aktiv gestalterisches Tun neue, eindrucksvoIle Kompositionen und geht damit weit über das bloße Ready-made und auch das über sein früher geschaffenes “Reprodukt” hinaus. Hans Bunge benutzt die Leinwand, um darauf seine Sicht der Welt darzulegen und uns ein Exposé zu geben, zu einer Geschichte, die wir uns weitergehend selber ausmalen können.
Das Herauslesen und Hineinlegen, das Geschichten-aus-dem-Verborgenen-ins-rechte-Licht- Setzen, Verdecktes-Offenbaren, Beziehungen-Stiften, das sind einige Aspekte, die mit dem Begriff “ausgemalt” bezeichnet sind. “Das Fabulieren macht mir Spaß”, sagt Hans Bungt e. Nicht aus dem Nichts heraus, sondern von einem Rohstoff ausgehend, kreiert er seine Bilder. Der alte Zwist zwischen Fotografie und Malerei, die anfänglichen Versuche der Fotografen, der Malerei durch Nachahmung ihrer akademischen RegeIn ebenbürtig zu werden, ist hier auf eine neue Ebene gehoben.
Die malerisch wirkenden Bilder, die durch den Duktus der zum “Voll-Ende” vollzogenen Firnisschicht ihre ganz eigene, vom Pinsel geprägte Präsenz erhalten, verbergen ihre Herkunft aus der Fotografie gerade nicht, auch wenn Farbgebung, Formgestalt und Bildkomposition ganz im Sinne der Malerei geschaffen sind.
Pinsel, Kamera oder MauskIick ? - Was das Bild zum Bild macht ist letztendlich keine Frage des benutzten Handwerkszeugs, sondern die darin schöpferisch zum Ausdruck gebrachte geistige Energie. Und die kann den Betrachter, wenn seine Antenne entsprechend ausgefahren ist, bei diesen Bildern mehr oder weniger heftig inspirieren.