Was sehen wir hier? Leinwand und Farbe, Blumen und Obst. So kurz und bündig, einfach und klar wie es scheint, ist diese Frage nicht zu beantworten. Wir können noch genauer beschreiben: Die Kompositionen strahlen Ruhe und Harmonie aus, schaut man genau hin, findet man in ihnen die vollendeten Proportionen des Goldenen Schnitts.
Das Bild ist auf wenige Motive konzentriert, deren Gegenständlichkeit eindeutig ist und die in sachlich klarer Formsprache wiedergegeben sind. Die Farben scheinen teilweise etwas verblasst und matt wie Fotografien aus Kochbüchern der 50er Jahre.
Die Stilleben wirken jedoch nicht morbide, zeigen keine natura morte sind keine Sinnbilder der Vergänglichkeit, im Gegenteil. Der Apfel berührt uns eher als ein Sinnbild der Gesundheit, erinnert an mütterlich-fürsorgliche Kommentare aus Kindertagen wie "Obst ist gesund". Doch das werbend propagandistische Element ist nur verhalten, nicht vordergründig zu finden. Denn die künstlerische Gestaltung, das In-Szene-Setzen des Motivs, hat malerischen Charakter, erinnert an Stilleben von Cezanne. Die bizarren Zweige erinnern an den graphischen Ausdruck asiatischer Kunst.
Die Bilder sind schön. Hans Bunge selbst sagt, "es ist wunderschön .. so etwas habe ich noch nie gemacht."
Doch was hat er hier denn nun gemacht? Schaut man einmal auf die Vita des Künstlers, so hat er sich selbst als Künstler und Produzent, aber vorher niemals als Maler verstanden oder versucht. Theaterwissenschaft und Germanistik, d. h. Gestaltung und Sprache und dann Industrial Design, Visuelle Kommunikation und freie Kunst waren seine Studienfächer. 1970 erschien er zur Aufnahmeprüfung an der Hamburger Hochschule. für Bildende Künste mit leerer Mappe. Er verweigerte Bilder und sprach von Ideen, Konzepten. Bilder zählten für ihn zum spätbürgerlichen Bildungsballast, und ihm ist klar "da gab es Berührungsängste" - ein Phänomen der Zeit. Trivialästhetik und Alltagskultur waren und sind bis heute seine Themen. Dabei nimmt das Medium Fotografie eine besondere Stellung ein, es erscheint ihm am unverfänglichsten.
Hans Bunge ist ein leidenschaftlicher, aber sehr bewußter Sammler. Seine Ideenskizzen entstanden oft auf Flohmärkten, seltener im Atelier. So bearbeitete, verfremdete er beispielsweise Postkarten, manchmal zeichnete er populäre Motive auf eigene Weise nach und produzierte sie dannn als Auflage. Aus jener Zeit des Sammlers, den 80er Jahren, stammt auch ein Karton, ein Kästchen mit Dias von unbekannt, auf dem geschrieben steht "Blumen + Stilleben 1. Wahl".
Dias, gefunden auf einem Flohmarkt, vom Sammler bewahrt, jahrelang gespeichert und dies nicht nur im Archiv, auch im Kopf. Aus den eigenen Pfründen wieder ans Licht geholt, gesichtet und ins V i s i e r genommen. Hingesehen, ein-gesehen, hineingesehen. Bunge sagt "Ich habe die Konsequenz gezogen aus dem, was mir da ins Haus flatterte".
Die vorgefundenen Dias zeigen Blumen und Stilleben, in deren Arrangement bzw. Komposition mit eigenwillig verschleierten, zum Teil sogar aufgelösten Räumlichkeiten Hans Bunge deutliche Hinweise auf eine malerische Intention des unbekannten Urhebers sah, und er interpretierte "diese Fotografien scheinen gemacht, um Vorlagen für gemalte Bilder zu sein".
Zurück zur anfänglichen Frage, was sehen wir? Wir sehen ein "Reprodukt", so bezeichnet der Künstler und Produzent diese Werk-Linie. Der Sache nach sind diese Arbeiten folgendermaßen zu beschreiben: Bilder vom Dia mit Tintenstrahl auf Leinwand im Format 50 x 70 cm gebracht, und auf Keilrahmen gespannt. Ehemals Dia, jetzt mit gegenwärtiger Technik digital gescannt und im Sinne der vorgefundenen künstlerischen Intentionen bearbeitet, d.h. kleine Fehlstellen beseitigt, fotografisch-technische Unstimmigkeiten harmonisiert, Hintergründe vereinheitlich.
So ist die Basis des Produktes zwar ein vorgegebenes, dennoch ist es kein ready-made, kein fertig gemachtes Ding, wie ein von Marcel Duchamp gekaufter und auf den Sockel gestellter Flaschentrockner. Denn hier hat ein im Dia nur flüchtig, für den Moment des Reproduzierens geschaffenes Lichtbild eine dinghafte, materlialisierte Präsenz erhalten. Die beinah vergessenen, verpackten und unbeleuchteten Bilder aus dem irgendwo sind aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt, sie sind geküsst und damit zu einer neuer Existenz verwandelt worden.
Mit dem Entstehungsjahr der Dias, 1942, wird unweigerlich die Frage nach einem Sinn evoziert. Blumen und Stilleben sind nicht zeitkritisch, nicht national, sie bedeuten aber auch keine idyllische Verblendung. Sie sind offensichtlich ein Rückzug aus dem Zeitgeschehen in einen sachlich neutralen Raum, sie können als Rückzug aus dem Geschehen in die Stille, in die innere Emigration verstanden werden. Hans sagt: "Leinwand, der Stoff, auf dem die Träume sind". Diese Träume sind erwacht, wurden erhört und erfasst, und sie wurden nach mehr als fünf Jahrzehnten VOLL-ENDET. Diese Vollendung ist nun hier wie auch bei traditioneller Malerei explizit durch Firnis als abschließende Bildschicht sichtbar gemacht. Trotz und nicht zuletzt aufgrund dieser Vollendung bleibt diesen Bildern eine vielschichtige Dinghaftigkeit und unergründliche Rätselhaftigkeit zu eigen.